Welcher Weg ?, Oktober 2006

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                                           Welcher Weg?

(von Petra Essink)


Als wir gerade wussten dass Tonja gehörlos ist und ich mich durch einen Berg Informationen zur Gehörlosigkeit durchgelesen hatte, merkte ich, dass ich erleichtert war, dass Tonja gehörlos und nicht schwerhörig geboren war. Wenn sie schwerhörig gewesen wäre, hätte sie unter den Hörenden immer auf Zehenspitzen laufen müssen. Und wenn sie keine Gebärdensprache gelernt hätte, hätte sie auch unter den Gehörlosen nicht wirklich einen Platz. Als Gehörlose wird das Kommunizieren mit Hörenden schon schwierig werden, aber unter Gehörlosen wird sie sich mit ihrer Gebärdensprache frei bewegen können. Als wir von der Möglichkeit des CI hörten, waren wir uns ganz schnell und ohne viele Worte einig, Tonja kein CI implantieren zu lassen. Wir wollten sie nicht verändern.


Aber nachdem sowohl meine Schwiegermutter als auch Mitarbeiter des Audiologischen Zentrums in Zwolle mehrere Male nachgefragt hatten, warum wir das so beschlossen hatten und ob wir das nicht noch einmal gut überlegen sollten, schlug der Zweifel zu. Jac und ich gingen, jeder auf seine Weise, fleißig auf die Suche nach neuen und anderen Informationen zum CI. Wir surften im Internet, fühlten, dachten, zweifelten und sprachen miteinander, mit anderen Eltern und mit erwachsenen Gehörlosen. Die Letzteren sagten alle, sie seien froh, ohne CI aufgewachsen zu sein. Falls es für sie die Möglichkeit gebe, doch noch ein CI zu wählen, würden die meisten von ihnen das nicht tun. Jac schrieb Tagebuch. Wir sagten uns, dass Tonja ein Recht hatte, später unsere Entscheidung zu hinterfragen.


Wir versuchten, den Weg mit CI und den ohne CI für Tonja soweit wie möglich voraus zu denken. Der Weg mit CI würde sie zu einem irgendwie schwerhörigen Menschen machen. Unterwegs müsste sie sich einer Operation unterziehen, die hoffentlich ohne Komplikationen verlaufen würde. Sie würde viel Training bekommen, Kontrollen im Krankenhaus und vielleicht auch Reimplantationen erleben. Sie müsste natürlich auch gut die Gebärdensprache lernen. Würde sie sich zuhause fühlen und entspannen können unter den Hörenden? Würden wir als Familie es schaffen, auch mit einem schwerhörigen Kind weiterhin zu gebärden?


Der Weg ohne CI würde in unseren Augen deutlicher und sicherer sein. Keine Operation und keine Abhängigkeit von Technik. Ein wichtiger Aspekt: die Gebärdensprache. Schön und schwierig (für uns). Sie würde zu einer gehörlosen erwachsenen Frau aufwachsen. Davon gab es schon mehr in den Niederlanden und in der Welt. Sie würde eine ganze Familie dazu bekommen: die Gehörlosengemeinschaft. Hoffentlich würde sie dort Freunde finden. Wir würden eine „Schwiegerfamilie“ bekommen. Hoffentlich würde sie mit Unterstützung der Logopädie gut sprechen lernen. Sicher würden wir ihr da auch helfen können.


Etwa nach einem Monat kamen wir eines Abends zu einer neuen Form des Entschlusses, diesmal durchfühlt und durchdacht. Wir haben, aus unserer Perspektive, die beste Wahl getroffen. Wenn ich mir Tonja ansehe, denke ich dass sie auf einem guten Weg ist. Tonja ist ein fröhliches, freies, ideenreiches und fantasievolles Kind. Sie spricht noch nicht, aber gebärdet unglaublich viel. Sie sitzt in der Schule in Zwolle in einer Klasse mit sechs anderen Kindern, die alle kein CI haben. Das ist einzigartig in den Niederlanden, denn die meisten Kinder ihres Alters sind wohl implantiert. Also volle Kanne Gebärdensprache für Tonja. Aber … wie lange noch, wenn man sich die heutigen Entwicklungen in den Gehörlosenschulen ansieht. Es wäre traurig, wenn die zweisprachige Methode durch das Aufkommen des CI aufgeweicht wird zu einem unbestimmten Gemisch von Niederländisch und das Niederländisch begleitenden Gebärden. Nach meiner Meinung würde eine stabile Gebärdensprachbasis Tonjas Leben so viel mehr Verständnis, Reichtum und Halt geben.


Tonja führte jüngst eine Fragerunde an unserem Tisch durch. Sie fragte jeden von uns: DU GEBÄRDEN SCHÖN? Pepijn sagte: GANZ GUT. Melchior antwortete: NEE, NICHT SCHÖN. Jac sagte: SCHÖN, ABER SCHWIERIG. Ich antwortete: SEHR SCHÖN, EIN BISSCHEN SCHWIERIG. Wir haben Tonja nicht verändern lassen. Tonja veränderte uns. Das finde ich schön.


(aus Woord en Gebaar, Niederländische Zeitschrift für Gehörlose, Juni 2006, S. 13, übersetzt aus dem Niederländischen von Uwe)


Copyright:  Woord en Gebaar / www.woordengebaar.nl


Anmerkung: Von Petra Essink haben wir auch den Artikel „Ein Goldgeschenk“ übersetzt, siehe im Archiv im April 2003

31. Oktober 2006

 

 


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