Sorgen, Mai 2005


                                         Sorgen

Anja Hiddinga, Mutter von zwei gehörlosen Kindern, NL , (Zweiter Teil)

Ich glaube, dass alle Eltern sich von Zeit zu Zeit mal verzweifelt fühlen, wenn es um Fragen der Erziehung geht. Wer macht schon alles richtig? Die Welt ist so kompliziert geworden und so künstlich. Computer und die Elektronik scheinen das Kinderleben zu beherrschen, Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer freien Zeit hinter dem Computerbildschirm.

Neulich sprach ich mit jemandem darüber, die Kinderpsychiaterin ist. Ich erzählte ihr von meiner Sorge, dass Boaz geradezu süchtig nach Computerspielen zu sein scheint. Warum zeigt er kein Interesse für die schönen Spiele, die früher gespielt wurden? Spiele, mit denen man seine Kreativität und soziales Verhalten entwickeln kann. Mit den Computerspielen entwickelt man - so wie ich es sehe – gerade mal eine Maushand.

Zu meiner Verwunderung antwortete mir die Kinderpsychiaterin: „Lassen Sie das Kind doch, geben Sie ihm die Möglichkeit, nichts „Sinnvolles“ zu tun; Kinder müssen schon so vieles, und bei gehörlosen Kinder ist dieser Druck doch meist noch stärker.“ Diese Antwort fiel für mich vollkommen aus heiterem Himmel. Ich hatte Verständnis für meine Klagen über die schlechte moderne Zeit erwartet und den Mangel an sinniger Zeitverwendung. Doch sie sagte eigentlich: „Mach mal schön so weiter, Boaz“:

Es war für mich ein „Augen-Öffner“, wie sie das im Englischen so schön ausdrücken. Ich fühlte mich mit einmal 1000 Kilo leichter. Ob die Psychiaterin nun recht hat oder nicht, es gibt dir einfach wieder Ruhe im Kopf.

Gehörlose Kinder müssen schon so vieles. Und ich möchte dem hinzufügen: Eltern von gehörlosen Kindern müssen auch so viel. Du machst dir Sorgen, ob du es wohl gut machst, ob alles seinen richtigen Weg geht, ob die Kinder glücklich sind, ob du noch genügend mit ihnen kommunizieren kannst. Es gibt Sorgen wegen der Schule. Haben sie eine gute Lehrerin, eine geeignete Klasse? Wie sieht es mit dem Angebot der Gebärdensprache aus, lernen sie zudem auch noch ein wenig sprechen? Sorgen wegen der freien Zeit: nicht allein bezüglich der Computersucht, sondern auch hinsichtlich der Integration in den Fußballverein, dem Kontakt innerhalb der Familie und mit Freunden. Und dann auch noch Sorgen, wie es zuhause so läuft: wird oft genug in Gebärdensprache kommuniziert, ist das Gebärdenniveau so, dass man wichtige Gespräche führen kann, liegt man damit nicht auf bestimmten Gebieten zurück? Natürlich versucht man etwas an allem zu tun. Sollte man nicht unbedingt einen Aufholkurs belegen? Sollte man nicht rasch mal zur Schule und ein Gespräch mit der Lehrerin führen, zum Trainer des Fußballteams, um Erklärungen abzugeben, hörenden Freunden und Familienmitgliedern den Besuch von Gebärdensprachkursen nahe legen? All die Sorgen drehen sich letzten Endes um ein und dieselbe Sache: Was muss ich tun, damit meine Kinder ein glückliches Leben führen können?

Wenn man nicht acht gibt, wird man eine Sorgenmutter. Ich kann manchmal so trübe Gedanken haben. Doch aus Sorgenmüttern werden Sorgenkinder. Davon bin ich überzeugt. Deshalb versuche ich, wenn ich sorgenvoll bin, „einen anderen Brunnen anzubohren“. Das Vertrauen, dass doch alles gut wird. Das Bewusstsein, dass wir nicht mehr können, als wir tun, sie nicht und ich auch nicht. Und dass es manchmal genug ist, Zeit sich zurückzulehnen.

Gerade kommt Boaz nach Hause: Sein Verein hat 1:0 gewonnen. Es gibt ein Fest hier zuhause.

(aus Woord en Gebaar November 2004, Seite 15)

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