Endlich gehörlos! 

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Einige Eltern kennen den gehörlosen Mark Drolsbaugh vielleicht schon aus seinen Beiträgen in der von GIB ZEIT Ende 1999 erschienenen Broschüre "Die Welt mit den Augen verstehen".

Mark Drolsbaugh schrieb bereits 1997 seine Autobiographie "Deaf Again". Ich war bereit, den Versuch zu wagen, mich durch seinen englischen Sprachdschungel durchzuquälen (meine Englischkompetenz läßt sich noch zu wünschen übrig) und wollte es bestellen. Zum gleichen Zeitpunkt erfuhr ich von seiner Existenz in deutscher Übersetzung. Noch am selben Tag orderte ich eine Bestellung beim Signum-Verlag an und konnte nun kaum erwarten, es endlich in meinem Briefkasten vorzufinden. Der Verlag und die Post mußte meine Ungeduldigkeit wohl erahnt haben, denn schon nach 48 Stunden lag dieses heiß ersehnte Papierbündel in meinem Briefkasten.

Jedoch meldete sich schon das nächste Problem. Ich hatte zu der Zeit anstrengende Arbeitstage und viele andere Verpflichtungen, für die ich auch Wochenenden opfern mußte, und wo -bitte schön- blieb die Zeit, in diesem Buch zu schmökern?

Aber meine Zielstrebigkeit und Neugierde ließ dieses Problem nur kleiner werden, denn ich nutzte die Zeit zum Verschlingen dieses Exemplares in allen (un)möglichen Situationen, wo ich einmal für eine kurze Zeit alleine war: im überfüllten Zug, beim Kochen, beim Essen, beim Bügeln, im Büro (aber nur für einen ganz kurzen Augenblick - pssst...!) und natürlich auch in dem kurzen - oder auch längeren - Moment, in der ich zuhause meine Notdurft verrichtete.

Ich verkniff es mir jedoch, das Buch vor dem Schlafengehen in die Hand zu nehmen, denn sonst hätte ich eine schlaflose Nacht verbracht.

Wenn ich das Buch mal beiseite legen mußte, weil mein Freund sich etwas vernachlässigt fühlte (vielleicht war er auch nur eifersüchtig?) oder weil die Pflicht wieder einmal rief, trug ich noch die magische Wirkung der Buchstaben, Wörtern und Sätze von Drolsbaugh in mich herum. Drolsbaugh erzählte sehr eindrucksvoll über seine Beziehung zu seinen gehörlosen Eltern, hörenden Großeltern über seine Kindheit, seinen schulischen Werdegang in einer Schule für Hörende und seinen Schwierigkeiten in der Kommunikation mit hörenden Menschen. Eine peinliche Situation in der Schule beschreibt Mark sehr nachvollziehend:

"Ich war ein Weltmeister im Nicken geworden und sagte ja zu allen möglichen Dingen, die Leute in beiläufigen Gesprächen von sich gaben. Meine persönlichen Spielregeln bestanden daraus, den Lehrern immer mit ‚ich weiß nicht' und den Schülern immer mit ‚ja' zu antworten, auch wenn ich überhaupt nichts verstand. Ich dachte, ich würde mich auf diese Weise besser anpassen. ‚Mark, was hälst du von Biologie?' (lächelnd) "Ja." ‚Mark, wann hast du heute Sport?' (lächelnd) "Ja." Mark, möchtest du einen Aschenbecher auslecken?" (lächelnd) "Ja." Trotz derartiger Zwischenfälle glaubte ich immer noch, daß es mir meistens gelang, mich anzupassen. ("Endlich gehörlos!", S. 53)

Im Alter von 23 Jahren machte er eine große Abzweigung in seinem Leben, er packte seine Koffer und ging zur Gallaudet University und erlebte dort sein, auch mit einigen Rückschlägen verbundenen Eintauchen in die Gehörlosengemeinschaft. In dieser Zeit machte er viele für ihn wichtige und prägende Erfahrungen, die er sich allerdings zu einem viel früheren Zeitpunkt gewünscht hätte. Er hatte wieder sich selbst gefunden.

Ich selbst konnte mich mit einigen Erlebnissen, die Drolsbaugh zu Papier brachte, tief identifizieren: gehörlose Eltern, einflußreiche hörende Verwandte, Kommunikationsprobleme und peinliche Mißverständnisse mit hörenden Menschen, das Leugnen der Gehörlosigkeit, späte Klarheit über die eigenen Bedürfnisse und Zugehörigkeit, der erste Eindruck von gehörlosen Dozenten, Professoren u. a. Mir schlug dabei auch der Gedanke ein, daß mein Werdegang auch einen ähnlichen Weg wie den von Drolsbaugh hätte nehmen können, zumal meine hörenden Verwandten damals einen starken Einfluß auf meine gehörlosen Eltern gehabt hatten und mich anfangs in einem Regelkindergarten am Wohnort unterbrachten. Nach einem Jahr verzweigte sich dieser Weg zum Glück in den Schwerhörigenkindergarten und danach Schwerhörigenschule - dank meiner Sturheit, die sich in der Verweigerung des Sprechens ausdrückte.

Was mir an dem Buch von Mark Drolsbaugh auch sehr gut gefiel, war sein lockerer, komischer und gleichzeitig auch ausdrucksstarker Sprachstil. Mir war beim Lesen oft nach gleichzeitigem Lachen und Weinen zumute.

Wäre das Buch in einem anderen, vielleicht sehr ernsten Stil verfaßt, würde es mir schwerer fallen, es so locker zu lesen, denn in Drolsbaughs Biographie würden sich ganz bestimmt nicht wenige Gehörlose und Schwerhörige ihre schönen und weniger schönen Erfahrungen wiederfinden, die zum Teil auch bedrückend sind.

Drolsbaugh zeigt sehr deutlich, wie wichtig es ist, das Gefühl zu haben, daß man als Betroffener in der Gehörlosengemeinschaft sehr viel geben und bekommen kann und vor allem, daß man ernst genommen wird, was in der hörenden Gesellschaft oft nur eingeschränkt möglich ist aufgrund Kommunikationsproblemen trotz des "mehr oder weniger Hörens". Er schreibt im Buch:

Weiter schreibt er:

"Ja, es stimmt, wir leben in einer hörenden Welt. Wir müssen uns darauf einstellen und Wege finden, darin zurechtzukommen. Aber meiner Meinung nach gibt es keine Entschuldigung dafür, daß man jemandem seine Lebensfreude vorenthält, indem man ihm den Kontakt mit seinesgleichen vorenthält. Es reicht nicht aus, in einer Welt zu leben, zu der ich nur einen Zugang von 35 Prozent habe - ich möchte ganz dabei sein. Wir alle müssen unsere Nische finden und ich bin sehr froh, daß ich meine gefunden habe." ("Endlich gehörlos!", S. 156)

Drolsbaugh hat mich nun wieder ..., ich könnte ewig weiterschreiben, so tief sind noch diese Gedanken in mir verankert. Ich habe den großen Wunsch, daß Eltern - seien ihre Kinder gehörlos oder schwerhörig - diese spannende Lektüre einmal auch in ihre Hände nehmen. Ich wünsche es mir, daß sie dadurch vielleicht etwas mehr Einblick in das Gefühlsleben von Gehörlosen und Schwerhörigen bekommen können und hoffe, mit ihnen einmal darüber austauschen zu können. Auch für Gleichbetroffene: Gehörlose, Schwerhörige oder CI-Träger ist es bestimmt sehr wertvoll, die Aufzeichnungen von Mark Drolsbaugh zu lesen. Ich kann Euch garantieren, Ihr werdet das Buch nicht so schnell wieder loslassen können!

Und wenn Ihr denkt, Ihr habt keine Zeit zum Lesen? Probiert doch einmal meine Methode: Lest Drolsbaugh beim Kochen, Essen, Bügeln oder auf dem Klo..., viel Spaß!

( Liane Boy)


Mark Drolsbaugh

Endlich gehörlos!

Signum Verlag 1999

ISBN 3-927731-67-6

€ 16,36


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